Totenspur by Luc Deflo

Totenspur by Luc Deflo

Autor:Luc Deflo
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2010-09-01T22:00:00+00:00


22

Michelle Bekaert stieg am Bahnhof von Mechelen aus, bezahlte den Taxifahrer und verschwand in dem Fußgängertunnel, der in die Hendrik Consciencestraat mündete. Diese lag nur wenige Straßen von der Louisastraat entfernt, wo ihr Wagen hoffentlich noch immer geparkt war.

Schon als sie in die Louisastraat einbog, sah sie ihn von weitem. Der Mercedes stand noch an derselben Stelle, um den rechten Vorderreifen eine Parkkralle. Sie schlug die Hände vor die Augen und überlegte. Erst gründlich nachdenken, Michelle. Du hast Zeit genug.

Achtlos ging sie an dem eleganten roten Sportwagen vorüber. In der Onzelievevrouwestraat bog sie rechts ab und betrat die Taverne De Kleine Keizer.

Sie bestellte einen Tee mit Zitrone und blickte auf ihre Armbanduhr. Viertel vor elf. Sie hatten den Ausweis von Françoise Bourgeois kopiert und ihr die Autoschlüssel abgenommen. Egal, der Ausweis war sowieso viel zu heiß und damit wertlos geworden. Doch den Wagen anzuzünden war auch ohne Schlüssel ein Kinderspiel. Sie musste nur die Seitenscheibe einschlagen, den Kofferraum öffnen, den Innenraum mit Benzin übergießen und das Ganze anzünden. Zwar hätte sie den Wagen lieber an einem einsameren Ort abgefackelt, aber sei’s drum. Außerdem war unter der Woche in einem Nest wie Mechelen sowieso nichts los.

Genüsslich schlürfte sie ihren Tee und sah zu, wie die vorletzten Gäste gingen, ein gesetztes Ehepaar mit einem Pudel im selbst gestrickten Pullover, genauso ein Köter wie der von Vicky Versavel. Rasch kippte sie den Rest Tee hinunter, verbrannte sich dabei die Zunge und stand auf. Nicht als Letzte die Kneipe verlassen, Michelle. Das wäre zu auffällig.

Draußen kondensierte ihr Atem in dunstigen Schleiern. Sie beschloss, zuerst einen Spaziergang zu unternehmen und von einer öffentlichen Telefonzelle aus Vicky Versavel anzurufen. Die gute Frau machte sich vermutlich schon die größten Sorgen, und vielleicht war bei ihr ja doch noch was zu holen. Sie brauchte dringend eine neue Identität, und irgendwie ähnelte ihr die dralle Blondine tatsächlich ein wenig.

Selbst auf der Haupteinkaufsstraße war keine Menschenseele zu sehen, als Michelle an den Schaufenstern entlangflanierte. Nicht besonders aufregend, nirgendwo Haute Couture. Auf einmal wurde ihr klar, warum Vicky Versavel sich in dieser Stadt wohlfühlen konnte. Diese Versagerin konnte nicht mal ein exklusives Armani-Stück von einem durchschnittlichen Emporio-Teil unterscheiden. Nadine Versluys war da aus ganz anderem Holz geschnitzt gewesen, sie hatte eine Wohnung an der Küste besessen und es verstanden, sich geschmackvoll zu kleiden. Sie hatte wirklich Klasse gehabt. Viel zu bescheiden, aber durch und durch ein Klasseweib. Diese Vicky Versavel hingegen – was für ein abstoßendes Geschöpf!

Im Stadtpark von Mechelen suchte sich Michelle Bekaert alias Françoise Bourgeois alias Nadine Versluys eine einigermaßen saubere Bank. Vorsichtshalber holte sie dennoch rasch einen seidenen Foulard aus ihrer Delvaux-Handtasche, legte ihn unter und schlug den üppigen Kragen ihres edlen Kaschmirmantels hoch. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer neuen Mitbewohnerin und ihrem zukünftigen Ego ab: Vicky Versavel. Dieser erste Restaurantbesuch, dieses deprimierende Essen in dieser Kaschemme. Schon da hatte sie Vickys Fassade durchschaut: Es war alles nur schöner Schein, und sie war bei weitem nicht so reich, wie sie nach außen hin gerne vorgab.

Michelle ballte die Fäuste. Sie hasste Menschen, die anderen etwas vormachten.



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